Der Bischof des Bistums Basel äussert sich über Gottes Menschwerdung und erklärt, warum wir Weihnachten nötig haben.
Bischof Felix Gmür im Ordinariat des Bistums Basel in Solothurn.
Anfassen. Begreifen. Verstehen. Wie soll das gehen mit Gott? Gott ist in unserer kollektiven Vorstellung doch eben gerade nicht fassbar, nicht zu begreifen. Wäre er das, würde falsch sein, was unsere Sprache über ihn sagt: dass er ewig sei und allmächtig.
Und jetzt Weihnachten! Gott soll nun plötzlich das sein, was er nie war: Fleisch. Zum Anfassen. Zum Begreifen. Deshalb ist Weihnachten ein Skandal. Es erregt Ärgernis bei den sogenannten Heiden vor zweitausend Jahren und erregt Anstoss bei vielen Nicht- oder Andersreligiösen heute. Gott wird Fleisch in seinem Sohn, fassbar, greifbar, und löst sich dennoch nicht im Irdischen auf. Er bleibt, was er ist, geht gleichzeitig vollkommen aus sich heraus und wird, was er will: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen» (Joh 1, 14).
Gott setzt sich irdischen Bedingungen aus. Nicht Geschöpf, so sagt es das christliche Glaubensbekenntnis, aber wie ein Geschöpf, wie sein Geschöpf Mensch. Anschaulich zeichnet dieses Bild das Lukasevangelium mit dem Kind in der Krippe. Gott zum Anfassen.
Das geht einem religiösen Bewusstsein entschieden zu weit, für das gilt: Gott ist im Himmel, gross und allmächtig. Weihnachten dreht den Spiess um. Gott ist auf Erden, klein und ohnmächtig. Gott ist Mensch. Das wiederum, um ein Beispiel zu nennen, bringt den rumänisch-französischen Philosophen und Literaten Emil Cioran auf die Barrikaden, weil es dem Menschen «ein massloses Statut verliehen» hat und, «indem es die menschliche Anekdote zur Würde des kosmischen Daseins erhebt, hat es über unsere Bedeutungslosigkeit hinweggetäuscht, hat es uns in die Illusion, in einen krankhaften Optimismus gestürzt».
In Ciorans Kritik steckt nicht nur Ablehnung dem Gedanken der Inkarnation, der Fleischwerdung gegenüber, sondern auch ein Körnchen Wahrheit. Sie zeigt sich im menschlichen Grössenwahn aller Zeiten, sie zeigt sich darin, dass der Mensch meint, er selber sei Gott, oben, gross und allmächtig. Wohin das führt, lehrt die Geschichte zur Genüge. Was der Mensch noch nicht wirklich gelernt hat und weiter lernen muss, ist, dass sich wahre Grösse nicht in der Grösse manifestiert, sondern im Respekt vor dem Kleinen, dass, wer wahrhaft oben sein will, unten ankommen muss, dass wirkliche Macht die eigene Ohnmacht anerkennt. Das braucht ein Umdenken, und deshalb heisst das erste Wort, das Jesus im Markusevangelium spricht: «Kehrt um!»
Wer ist denn an Weihnachten der Grösste im ganzen Land? Es ist der kleine, anderer Leute Macht vollkommen ausgelieferte Jesus in der Krippe.
Deshalb offenbart an Weihnachten Gott nicht nur sein eigenes Wesen, sondern führt den Menschen zur Erkenntnis seiner eigenen Lebensbedingungen. Gott wird Mensch, damit der Mensch Gott erkennt, aber ebenso, damit er sich selbst erkennt. Er ist zerbrechlich, auf Hilfe angewiesen, verletzlich.
Das war schon immer schwer zu verstehen. Deshalb stehen im Schöpfungshymnus des Johannesevangeliums, der ein Loblied auf das «Wort» (griechisch «lógos»), also auf das Prinzip dessen, das trotz aller Unterschiede und allen Wandels alles zusammenhält, auch ein paar bittere Sätze. Es heisst da: «Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.»
Die Welt erkannte ihn nicht! Sie wollte ihn nicht erkennen. Denn indem sie ihn erkennt, erkennt sie sich selbst und ihre Grenzen, sie erkennt, dass Leben und Vergehen nicht aus ihr selbst stammt, sondern dass auch bei aller «Mitarbeit» am Schöpfungswerk Gottes der Mensch nicht selbst Schöpfer, sondern in eine Ordnung eingebunden ist. Sie erkannte ihn nicht, weil sie die Existenzbedingungen von Welt und Mensch, der nicht über dem Geschehen steht, sondern in dieses eingegliedert ist, nicht erkennen wollte. Wie wahr war das damals, wie wahr ist das heute.
Die Seinen nahmen ihn nicht auf! Deshalb haben wir Weihnachten so nötig. Jesus aufnehmen heisst anerkennen, dass wir endlich sind, dass unsere Existenz zerbrechlich ist, dass wir verwundbar und verletzlich sind. Wer wollte das leugnen wollen, wo ein kleines Virus mit seinen immer neuen Mutationen uns das täglich vor Augen führt?
Die grösste Macht besteht darin, Macht abzugeben. Das bedeutet Freiheit. Gott setzt diesen Akt absoluter Freiheit, indem er sich in seiner Menschwerdung seiner Allmacht entledigt und sich abhängig und verwundbar macht. Und gerade dadurch gibt er uns Menschen, die ja – schauen wir uns gut an! – in vielerlei Abhängigkeiten stehen und verletzlich sind, eine durch nichts anderes zu gewinnende Würde. Sie greift über das zeitlich Begrenzte zum Göttlichen und Ewigen aus und greift zugleich ins diesseitig Menschliche ein. Ihre Beglaubigung findet sie im freien Akt des Sich-selber-Schenkens, um der Freiheit der anderen willen.
Jesus nennt das Liebe. Nicht umsonst ist Weihnachten das Fest der Liebe. Darum können wir es als Fest für die Menschheit begreifen. Gott im Menschen zum Anfassen. Wer es fassen kann, fasse es.
Hinweis: Felix Gmür ist Bischof des Bistums Basel, zu dem unter anderem auch die Kantone Luzern, Zug und Aargau gehören. Ausserdem präsidiert er die Schweizer Bischofskonferenz. Der 55-Jährige entstammt einer Luzerner Familie.
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