Die Wächter der Vatikanischen Museen gehören zu den Namenlosen der Kultur. Sie sterben still. Von ihnen hört man nichts, obwohl die Sammlungen schließen müssten, träten sie nicht ihren Dienst an. So wie alle Wege aus allen Gegenden nach Rom führen, braucht man für den Weg zurück Gründe. Die Päpste, die die Zeitlosigkeit repräsentieren, im Leben wie im Tod, müssen sich keine Sorgen darüber machen, dass ihr Wort weltweit einen Platz in der Gegenwart findet, auch wenn es nicht dringlich ist. Der Balsam für die Seele hat kein Verfallsdatum.
Sehr viel schwieriger haben es in dieser Hinsicht die stummen Wächter der angehäuften Vergangenheiten. Mag ihre Bedeutung in Rom, verglichen mit der Größe ihres Dienstherrn, unbestritten minimal sein, außerhalb der Grenzen des Vatikans hat dieser winzige Rest sich schnell verloren. Er versickert zu Nichts, wie der Alltag, dem jede römische Büste in verzweifeltem Heroismus die steinerne Stirn zu bieten versucht.
Als sei das Leben selbst museal
Man möchte gegen eine Klage darüber argumentieren, dass die Wächter nichts Wichtiges zu sagen hätten. Dabei empfangen sie stoisch jedes Jahr Millionen ignoranter Besucher, die sich an ihnen vorbeidrängen, als seien gerade sie, das Personal, im Reich der toten Künste gar nicht anwesend. Über sie ein Wort zu verlieren heißt offenbar, den Ereignissen der Aktualität ein Grab zu schaufeln, als sei das Leben, wider Erwarten, selbst Kunst und museal geworden, in Formen gegossen und verflossen, bevor es begonnen hat. Sie haben Kollegen weltweit. Aber nur sie sind in Rom, ganz nah an jenem mehrstöckigen Gebäude, wo der Segen für die Welt an manchen Tagen aus einem der oberen Fenster fällt, aus jenem, das ein dunkellila Tuch, über die Brüstung gelegt, auffällig schmückt und die Augen der Wartenden auf sich zieht.
Ein Dienstplan, anders kann ich mir ein Überleben des Geistes im Labyrinth der päpstlichen Leidenschaften nicht vorstellen, muss ihnen die Säle, in denen sie Wache schieben, im Wechsel zuweisen. Wer täglich Nudeln mit Tomatensoße isst, kommt über die Runden. Aber immer dasselbe Buch lesen, immer dasselbe Lied hören, ein Berufsleben vor Raffaels Stanzen verbringen, das ginge zu weit. Ich glaube nicht, dass die Wächter über jene Kunstwerke miteinander reden, die ihnen besonders gut gefallen. Wenn sie sich vor und nach der Arbeit treffen, dann unterhalten sie sich sicher über Politik, Fußball, Familie.
In den Vatikanischen Museen.
Dank einer im Laufe ihrer Dienstjahre geknüpften Beziehung zu einzelnen Exponaten wachsen sie zu stummen Experten heran, auch wenn sie mit den Spezialisten nicht konkurrieren können, sie kennen ja die Forschungsliteratur nicht. Wann sollten sie diese zur Kenntnis nehmen können? Bei der Arbeit dürfen sie nicht lesen. Davor und danach sind sie zu müde. Ein von ihnen in den Stunden hellwacher Muße auserkorenes Kunstwerk kann ihnen zu einem Gespräch mit sich selbst verhelfen, zu dem sie nicht finden, wenn sie im Bus aus dem Fenster schauen.
Meistens werden sie dann von den Eindrücken der Dinge, die an ihnen vorübergleiten, oder von Phantasien, die sie hierhin und dorthin treiben, von sich abgelenkt. Die Vermutung mag naheliegen, dass sie unter dem Jüngsten Gericht der Sixtinischen Kapelle, wo der bei zügigem Tempo anderthalbstündige Gang durchs Museum endet, mit ein wenig Verachtung auf die Besucher herabblicken, die müde und erschöpft zu den umlaufenden steinernen Bänken stürzen, um einen freien Platz zu erwischen und den Kopf dösend in den Nacken fallen zu lassen. Die Luft ist stickig, als wäre man in einer Höhle mit Felszeichnungen eines hochbegabten Vorfahren gelandet, der auf Holzgerüsten mit seinen Gehilfen herumgeklettert war und unter Rückenschmerzen die Wände und die Decke bemalte.
Auch sie entkommen der Gegenwart nicht
Am Sonntag, wenn die Wächter der Verwandtschaft aus der Provinz den Petersdom zeigen, fühlen sie sich nicht auf der Seite der Verlierer, derer, die im Reich dieser Welt nicht das Wort ergreifen und nicht gefragt werden. Hier arbeite ich, sagen sie, kaum dass sie mit ihrem Anhang den riesigen, von zahlreichen Säulen umfassten Platz betreten, und dann zeigen sie auf die imposante Kuppel und können, ohne dass ein Wort fiele, damit rechnen, dass die Verwandtschaft den Abstand ermisst, den der Dom von einer Pizzeria trennt, die ins Auge springende Pracht und Präsenz der Vergangenheit von der im Minutentakt stur vergehenden Gegenwart. Doch auch sie entkommen ihr nicht. Wenn Alberta, Giorgio, Francesco, Roberto und wie sie alle heißen mögen nach dem Dienst nach Hause gehen, fädeln sie sich in den Verkehrsfluss ein, der die Stadt durchzieht. Sie atmen auf, sobald sie aus der Höhle der Päpste ans Tageslicht treten und das Dämmerlicht der alten Kunst mit dem blauen Himmel über Rom eintauschen.
Geschafft, dachten sie, sogen die frische Luft ein und verharrten für einen Moment in einer Art Abwesenheit, als würden sie nicht auf diesem Planeten leben und wären nicht einmal in ihr eigenes Leben involviert. Kaum aber ließen sie die Luft entweichen, kehrten sie in die Gegenwart zurück wie Seelen, die sich in ihrem Körper wieder festsetzen und die Enge der Existenz erneut auf sich nehmen müssen. Wer noch zu den Rauchern zählte, steckte sich jetzt eine Zigarette an. Alle anderen ließen sich, als hätten sie ein Hindernis überwunden, in den ihnen eigenen Gang fallen, in den versöhnenden Rhythmus der Fortbewegung, der ihnen auf den ersten Metern suggerierte, dass sie ihr Leben in der Hand hätten, ein Gefühl, das sie an der nächsten Ampel verließ.
Eberhard Rathgeb ist Publizist und Schriftsteller und veröffentlichte 2022 den Roman „Unser Alter“.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen